HT 2023: Akademische Prekarität zwischen Vormoderne und Moderne

HT 2023: Akademische Prekarität zwischen Vormoderne und Moderne

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD) (Universität Leipzig)
Ausrichter
Universität Leipzig
PLZ
04107
Ort
Leipzig
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
19.09.2023 - 22.09.2023
Von
Maximilian Görmar, Abteilung Forschungsplanung und Forschungsprojekte, Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel

Prekarität und Fragilität sind nicht erst seit der Einführung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes (2007) ein unter dem Hashtag #ichbinhanna in den letzten Jahren viel diskutiertes und kritisiertes Kennzeichen akademischer Karrieren und Wissensökonomien.1 Spätestens seit Martin Mulsow den Begriff des Prekären Wissens in die Wissens- und Ideengeschichte der Frühen Neuzeit einführte und damit auf die Prekarität bestimmter Wissensbestände und ihrer menschlichen wie auch materiellen Träger hinwies, ist generell das Problembewusstsein für die prekären Elemente der gelehrten Arbeit in der Vormoderne gestiegen.2 Offen ist dabei nach wie vor die Frage, wie sich historische und heutige akademische Prekarität zueinander verhalten, ob das eine aus dem anderen geradezu zwangsläufig folge oder ob beide Phänomene aufgrund unterschiedlicher historischer Rahmenbedingungen unabhängig voneinander entstanden sind.

Diese Frage griffen die Organisator:innen der besprochenen Sektion, JOËLLE WEIS (Trier) und TOBIAS WINNERLING (Düsseldorf), in ihrer Einleitung auf und knüpften an eine im Juni 2022 von den beiden in Düsseldorf veranstaltete Tagung an.3 Nach dieser Kontextualisierung umrissen sie kurz, was unter akademischer Prekarität zu verstehen sei. Unter Rückgriff auf die Etymologie (lat. precarius = erbeten, aus Gnade erlangt, unsicher) definierten sie die akademische Prekarität als eine Form der Unsicherheit, die sich durch fehlende Garantien für den Studienerfolg oder eine langfristige, mit ökonomischer Sicherheit verbundene Stelle im akademischen bzw. gelehrten Arbeitsfeld auszeichne. Mit Blick auf die aktuelle Relevanz historischer Formen akademischer Prekarität formulierten Weis und Winnerling zwei Leitthesen: (1) Die historische akademische Prekarität, gerade auch die der Vormoderne, kann für die heutige Diskussion relevant sein, da es langfristige Pfadabhängigkeiten gebe, die durch eine Analyse in der longue durée offengelegt werden können. Allerdings ergibt sich die Gefahr, dass (2) Pfadabhängigkeiten überbewertet werden und in einer deterministischen Perspektive die heutige akademische Prekarität quasi notwendig zur Folge haben. Damit würde aber sowohl den historischen als auch den jetzigen Akteuren ihre agency abgesprochen. Diese doppelte Gefahr, historische Pfadabhängigkeiten entweder zu unter- oder aber zu überschätzen, adressierten die folgenden Vorträge, indem sie auf je unterschiedliche Weise die Betrachtung diskursiver und institutioneller Strukturen mit einem akteurszentrierten Ansatz verbanden.

Als erster tat dies KARSTEN ENGEL (Basel) anhand eines Gutachtens von 1502, mit dem Herzog Georg der Bärtige von Sachsen den Reformbedarf an der Universität Leipzig ermitteln wollte. Angesichts der in diesem Jahr neugegründeten Universität Wittenberg sah sich die alte sächsische Landesuniversität einem zunehmenden Konkurrenzdruck ausgesetzt. Herzog Georg ließ daher die Leipziger Magister befragen, welche Probleme aus ihrer Sicht zu beheben seien, um ihre Alma Mater weiterhin wettbewerbsfähig zu halten. Anhand des Quellenbefundes arbeitete Engel zwei zentrale Erkenntnisse heraus: 1. Aufgrund hoher Lebenshaltungskosten und schlechter Bezahlung ihrer Lehrtätigkeit hätten vor allem die jüngeren Magister ihre Situation als prekär empfunden. 2. Damit lassen sich anhand des akademischen Alters (hier verstanden als die Anzahl an Jahren, während der eine Person der Universität angehörte) zwei Statusgruppen unter den Leipziger Magistern ausmachen, die miteinander in Konflikt standen. So beschwerten sich die Jüngeren, die Älteren würden die mit entsprechenden Einnahmen verbundenen Bakkalarpromotionen monopolisieren und den Jüngeren, aus Neid über deren größere Hörerzahlen, nicht erlauben, über Themen zu lesen, die die Studenten gerne hören würden. Daraus folgten wiederum verminderte Einnahmen für die jüngeren Magister aufgrund geringerer Hörergelder. Andererseits empfanden sich die Älteren gegenüber den Jüngeren zurückgesetzt, wiewohl allein Ihnen, nachdem sie mindestens sieben Jahre an der Universität gelehrt hatten, laut den Statuten ein Mitbestimmungsrecht innerhalb der artes-Fakultät vorbehalten war. Die sich daraus ergebende Zwei-Klassen-Struktur erschwerte das Funktionieren der Fakultät und der ganzen Universität. Gemünzt auf die heutige Situation stellte Engel fest, dass die akademischen Qualifikationswege bis heute zwei Klassen von Universitätsangehörigen schaffen, zwischen denen das Chancengefälle möglichst gering sein sollte, um etwa Fälle von Machtmissbrauch zu vermeiden und das Funktionieren der Universitäten nicht zu gefährden. Dazu sei auch die akademische Mitbestimmung der strukturell Benachteiligten, sprich des größtenteils prekär beschäftigten Mittelbaus, zu gewährleisten.

Dass auch die vermeintlich sicher angestellten Professoren in der Vormoderne einem zum Teil erheblichen Maß an ökonomischer Prekarität ausgesetzt waren, zeigte CHRISTINA STEHLING (Marburg) am Beispiel der beiden Marburger Professoren Johann Gottlieb Waldin und Johann Jacob Busch. Dabei bezog sie den durch Konfession und Verwandtschaft bestimmten städtischen und universitären Kontext Marburgs in ihre Betrachtung mit ein. Dieser war durch eine Dualität zwischen der bis in das 19. Jahrhundert nominell reformierten Universität und der hauptsächlich lutherischen Stadtbevölkerung geprägt, ebenso wie von weitgehend konfessionell homogenen Heiratskreisen. Allerdings setzte mit dem Siebenjährigen Krieg (1756–1763), der Stadt und Hohe Schule schwer mitnahm und zu vielen Neubesetzungen von Lehrstühlen führte, ein Transformationsprozess ein, der die „Familienuniversität“ Marburg öffnete, aber eine tendenzielle Zweiteilung der Professorenschaft bewirkte. So gab es einerseits gut etablierte, in die Marburger Familienverbände integrierte und meist reformierte Professoren, die ökonomisch auf festem Boden standen, und andererseits Hochschullehrer, die sozial und familiär isoliert sowie eher lutherisch waren und in der Folge ökonomisch tendenziell prekärer gestellt waren. Dabei können die Fallbeispiele Busch und Waldin der zweiten Gruppe zugerechnet werden. Anhand dieser beiden Protagonisten arbeitete Stehling mehrere Indikatoren (Fremd- und Eigenwahrnehmung, Schulden, unterdurchschnittliche Besoldung) und ökonomische sowie soziale Bewältigungsstrategien für prekäre Professorenhaushalte heraus, wobei sie die in der anschließenden Diskussion noch einmal aufgegriffene Rolle der Ehefrauen hervorhob. Sie konnten etwa durch Familienvermögen, das sie in die Ehe einbrachten, oder durch Patenschaften zusätzliches ökonomisches und soziales Kapital generieren, um ihre und die Lage ihrer Ehemänner zu verbessern. Allerdings gelang dies im Fall der beiden Exempla, Busch und Waldin, mit sehr unterschiedlichem Erfolg. Während Busch sich als Medizinprofessor und praktizierender Arzt langfristig etablierte, sodass auch sein Sohn und sein Enkel Medizinprofessoren in Marburg werden konnten, scheiterte der Mathematikprofessor Waldin letztlich und befand sich stets in einer prekären Lage.

Mit JONATHAN VOGES (Gießen) verschob sich der chronologische Fokus in die Moderne. Anhand des Völkerbundes und dessen Bemühungen, Lösungen für das Problem akademischer Arbeitslosigkeit in den 1920er- und 1930er-Jahren zu finden, erhielt die Sektion zudem einen neuen internationaleren Blickwinkel. Dabei wurden arbeitslose Wissenschaftler, und nun auch vermehrt Wissenschaftlerinnen, bereits von den Zeitgenoss:innen als gesamtgesellschaftliches und politisches Problem wahrgenommen. Der Völkerbund versuchte diesem Problem durch die Gründung der Internationalen Kommission für geistige Zusammenarbeit zu begegnen, der mehrere bekannte akademische Persönlichkeiten angehörten, darunter Marie Curie. Ihren Vorschlägen zur Bewältigung akademischer Prekarität und Arbeitslosigkeit widmete sich Voges eingehender. Am Anfang der Arbeit Curies wie auch der Kommission stand eine Enquête, in deren Rahmen Länderberichte erarbeitet wurden, die in der Reihe „La Vie Intellectuelle dans les Divers Pays“ erschienen. Diese Berichte entstanden auf sehr unterschiedlichen Wegen, präsentieren sich inhaltlich entsprechend heterogen, stellen aber eine bisher wenig beachtete, faktenreiche Quellenbasis zur Lage des Wissenschaftsbetriebs nach dem Ersten Weltkrieg im internationalen Vergleich dar. Quellenkritisch merkte er an, dass die Autoren der jeweiligen Berichte durchaus daran interessiert waren, ihre Lage besonders schlecht darzustellen, um ein höheres Maß an Unterstützung zu erhalten. Auf dieser Basis erstellte Curie ein Gutachten, in dem sie Vorschläge entwickelte, um die Lage von (Natur-)Wissenschaftler:innen nach der Promotion, heute würde man von Postdocs sprechen, zu verbessern. Es sah einen Stipendienplan für Kandidat:innen vor, die sich entweder schon durch Publikationen einen Namen gemacht hatten oder durch gute Noten ausgewiesen waren. Sie sollten neben finanzieller Unterstützung Betreuungsplätze in Laboren erhalten, die durch eine internationale Organisation ohne Rücksicht auf nationale Klauseln vergeben würden. Auf diese Weise sollte die fachliche Expertise der Stipendiat:innen und ihr wissenschaftliches Netzwerk ausgebaut werden, indem etablierte Wissenschaftler:innen als Mentoren bzw. im Sinne einer noch positiv verstandenen Patronage wirkten. Kurz gesagt ging es darum, die employability der prekären Akademiker:innen zu verbessern. Dieser Plan wurde 1930 durch eine Expertenkommission des Völkerbundes befürwortet, konnte aber durch die Weltwirtschaftskrise nie umgesetzt werden. Er dokumentiert dennoch, so das Fazit von Voges, ein internationales Problembewusstsein in Bezug auf die akademische Prekarität.

Ein solches Problembewusstsein ließ der Protagonist des letzten Vortrages, Karl Brandi, durchaus vermissen. Freilich erhält man auch bei heutigen Wissenschaftsmanager:innen diesen Eindruck, die, wie LENA OETZEL (Salzburg) einleitend feststellte, nicht einfach nur auf der Suche nach guten Wissenschaftler:innen, sondern nach „Forscherpersönlichkeiten“ seien. Wissenschaft sei kein Beruf wie jeder andere, so die immer noch verbreitete Meinung. Auf ähnliche Weise verklärte Brandi rückblickend in seinen Lebenserinnerungen das Privatdozententum, also eine besonders prekäre Karrierephase, als eine wichtige Voraussetzung für die Blüte der deutschen Universitäten im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Dabei zeichnete Oetzel auf der Basis der Autobiographie Brandis, die Gegenstand eines Editionsprojekts an der Universität Salzburg ist, nach, wie Brandis verklärende Rückschau sowohl zu dem sozialhistorischen Befund als auch zu seiner eigenen wissenschaftlichen Vita in einem Spannungsverhältnis stand. Denn er wurde nach der Habilitation 1895 verhältnismäßig schnell Extraordinarius für historische Hilfswissenschaften in Marburg (1897) und schließlich ordentlicher Professor für Mittlere und Neuere Geschichte in Göttingen (1902). Seine Karriere sah er vor allem als Resultat seiner eigenen Leistung, ohne über seine Zugehörigkeit zu einer durchaus privilegierten Gruppe zu reflektieren. Dazu gehörte auch, dass er den Charakter der Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert als einer „männlichen“ Disziplin unhinterfragt internalisiert hatte und Überlegungen zu seiner Eheschließung hauptsächlich unter dem Aspekt seiner Karriereplanung anstellte. Das Privatdozententum sah er vor diesem Hintergrund als charismatischen Akt, in dem die damit verbundene Prekarität als Initiation und Bewährungsprobe stilisiert wurde. Es verband fachliche und Persönlichkeitsbildung und wurde geradezu als Inbegriff der akademischen Freiheit gesehen, die für Brandi eine Voraussetzung für die Professur war. Dabei spielten die akademischen Lehrer als Vorbilder eine wesentliche Rolle. Der persönliche Umgang mit ihnen war wesentlich für die Sozialisierung und Selbstorganisation des wissenschaftlichen Nachwuchses, eine Einschätzung, die auch bei den Stipendienplänen Marie Curies bereits aufschien.

Den Abschluss der Sektion bildete der Kommentar von SEBASTIAN KUBON (München). Er vertrat dezidiert eine Doppelperspektive als Mediävist und als Politaktivist (#ichbinhanna) und benannte einleitend die Karrierephase zwischen dem Ende des Studiums und dem Eintritt in eine Professur als Desiderat der Universitätsgeschichtsschreibung. Dieses werde kleiner durch die präsentierten Beiträge, die zudem einige Parallelen zur heutigen Situation des wissenschaftlichen Nachwuchses deutlich machten. Dazu zählten die Konflikte der akademisch Jüngeren mit den Älteren, die Hilfe der Forschenden durch Ehefrauen, Partner:innen und Familien, die gesamtgesellschaftliche Perspektive auf das Phänomen akademische Prekarität und die Verklärung derselben im Rückblick. In summa sei die prekäre Beschäftigung in der Wissenschaft kein Phänomen der Gegenwart, sondern auch der Vergangenheit. Dies führte Kubon zu der Frage, ob es auch Zeiten ohne Prekarität in der Wissenschaft gegeben habe, etwa während der Hochschulexpansion zwischen ca. 1950 und 1980, oder zukünftig geben werde, zum Beispiel angesichts des Fachkräftemangels, der in Feldern wie der Informatik besonders akut sei. Mit Blick auf den derzeitigen Mediendiskurs konstatierte Kubon eine strukturelle Entwertung der Wissenschaft durch die Prekarität und bezeichnete sie als einen Indikator für die Gesamtgesellschaft. Dazu gehört auch, dass man die Prekären heute mehr höre, etwa in den Sozialen Medien, die zukünftig wiederum als historische Quellen dienen könnten. Allein diese gesteigerte Sichtbarkeit und Hörbarkeit sei schon als Erfolg zu werten.

In der Diskussion wurden ausgehend von Kubons Kommentar eine Reihe grundsätzlicher Fragen wieder aufgegriffen und neu gestellt. Kann die historische Betrachtung die heutige Diskussion informieren? Sollte dabei der Fokus nicht über die Betrachtung des Prekariats hinausgehen? Was ist der ökonomische Kontext akademischer Prekarität und welche Risiken sind damit, gerade auch für Forscher:innen aus nichtakademischen Elternhäusern, verbunden? Inwieweit führt die Debatte über Prekarität zu einem veränderten Verständnis von Wissenschaftsfreiheit und welche Machtstrukturen von Inklusion und Exklusion sind damit verbunden? Die Beiträge der Sektionen lieferten hierzu sicher keine fertigen Antworten, wohl aber Bausteine und Anknüpfungspunkte, die Anregungen für zukünftige Forschungen und Debatten geben können. Zu hoffen bleibt also, dass auf die besprochene Sektion noch weitere fruchtbringende historische Interventionen folgen werden.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Joëlle Weis (Trier) / Tobias Winnerling (Düsseldorf)

Joëlle Weis (Trier) / Tobias Winnerling (Düsseldorf): Akademische Prekarität zwischen Vormoderne und Moderne? Problemskizze und Begriffsbestimmung

Karsten Engel (Basel): Je jünger, desto prekärer? Das akademische Alter als Prekaritätsdeterminante an der spätmittelalterlichen Universität Leipzig

Christina Stehling (Marburg): „… daß sie meine Kleydung und Linnen gebrauchen kann“. Im Schatten der Wissenschaft: Ökonomische Bedrängnis von Professorenfamilien im 18. Jahrhundert

Jonathan Voges (Gießen): Akademische Prekarität global. Der Völkerbund und die akademische Arbeitslosigkeit in den 1920er und 1930er-Jahren

Lena Oetzel (Salzburg): „Von dem Reiz und Wert des alten Privatdozententums ...“. Reflexionen über Karriereweg und akademische Prekarität in der Autobiographie des Historikers Karl Brandi (1868–1946)

Sebastian Kubon (München): Heute #IchBinHanna, früher JohannisSum? Über Kontinuitäten und Diskontinuitäten prekärer Beschäftigung im akademischen Bereich (Kommentar)

Anmerkungen:
1 Amrei Bahr / Kristin Eichhorn / Sebastian Kubon, #IchBinHanna. Prekäre Wissenschaft in Deutschland, Berlin 2022.
2 Martin Mulsow, Prekäres Wissen. Eine andere Ideengeschichte der Frühen Neuzeit, Berlin 2012.
3 Tobias Winnerling, Tagungsbericht: Die Schattenseite der Universität. Akademische Prekarität in der longue durée, ca. 1150–1945, in: H-Soz-Kult, 04.04.2023, https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/fdkn-135207 (02.11.2023).

https://www.historikertag.de/Leipzig2023/